100KM Biel

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2016 - Der Bericht

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Erlaufen in Biel.
007
Wahnsinnsritt.


Bieler Lauftage 2016

Der Bieler Lauf fand zum 58. Mal statt. Für mich war es die 12. Teilnahme.
Und die vergessene Lampe?
Leider konnten wir erst am Freitag Morgen die Anreise in die Schweiz starten. Es war voll auf den Straßen. Viele Staus. Ein Unfall ereignete sich nur ein paar hundert Meter vor uns. Wir fuhren nur Minuten später an den an der Seite stehenden Fahrzeuge vorbei, die in den Unfall verwickelt waren. Zum Glück wurde niemand verletzt.
Auch in der Schweiz gab es einige Staus.
Nun, wir kamen dann doch noch etwa 15:30 Uhr in Erlach an. Also hatten wir noch genügend Zeit vor dem Start des Laufes. Allerdings wollte ich zuerst zum See, und mir alles wieder ansehen. Der See ist hier auch besonders schön. Das Wetter war noch gut. So kam ich dann nicht dazu, mich vor dem Lauf noch etwas auszuruhen.

Außerdem musste ich den Knöchel am rechten Fuß massieren, der seit Tagen schmerzte. Immerhin überlegte ich wirklich, ob es gut wäre den Lauf überhaupt zu starten. Bei bestimmter Belastung und beim Laufen hatte ich Schmerzen. Allerdings hatte ich beim Saalelauf wieder die Erfahrung gemacht, dass manchmal Laufen auch beim Heilungsprozess helfen kann. Unter Umständen vergehen die Schmerzen ja. Werden weg gelaufen, spekulierte ich.
Muss man aber einen 100 Km Lauf mit Schmerzen starten? Wenn es dann doch schief geht? Was wäre, wenn die Schmerzen sich mit jedem Kilometer oder Meter sogar noch verstärken würden? Dann blieb mir nur noch, den Lauf zu beenden.
Abwarten.
Ich fuhr dann doch ziemlich ruhig zum Start. In der Doktor Schneyderstrasse fand ich schnell einen Parkplatz. Alles gut, kein Stress.
Der Knöchel schmerzte nur leicht beim Gehen.

Ich war gut unterhalten auf dem Weg zum Kongresszentrum und zur Startnummernausgabe.
Alles wie gehabt.
Immer wieder sah ich mir die Passanten an, die Läufer, die auch, bereits zum Kongresszentrum unterwegs waren oder auch die vielen Menschen, die sich am Bahnhof aufhielten oder in der Stadt bei Kaffee und Kuchen oder Bier an den Tischen an der Straße saßen. Man beobachtete mich auch. Ab und an lächelten mich Menschen an. Manchmal fragte jemand, ob ich die 100 Km laufen würde und erhob anerkennend den Daumen. Noch war es ziemlich ruhig am Start. Noch genügend Zeit, sich mental auf die Nacht vorzubereiten. Ich deponierte meine Duschsachen in dem Umkleideraum.

Dort sah ich mich um. Italiener kamen mit viel Gepäck und einer hatte ein T-Shirt an mit „Passatore” aufgedruckt und er hatte einen ziemlichen Bauch. Der andere war klein und schlank.
Der Kleine bewunderte einen anderen Läufer in der Nähe, der einen T-Shirtaufdruck auf dem Rücken hatte, der ihn interessierte. Und er streckte dabei lustig seinen Hals und versuchte zu lesen. Das sah auch komisch aus. Der dickere Italiener übersetzte, als der Kleine nach dem Lauf, der auf dem Rücken beschrieben war, fragte. Bewunderung wurde ausgedrückt. Es wurde viel gelächelt, gelacht und erzählt. Wortfetzen von Laufbeschreibungen streiften meine innere Vorbereitung auf die Laufnacht. Heldentaten wurden berichtet. Läufer unter sich. Für mich bekannte und unbekannte Läufe wurden beschrieben oder es wurde über Verletzungen und andere Läufer berichtet.
Ein offizieller Fotograf der Bieler Veranstaltung fotografierte Läufer und die verschiedenen Möglichkeiten, sich vor dem Lauf zu entspannen. Manche Läufer schliefen oder hörten Musik.

Dann ging ich zum Kongresszentrum. Ich war mit Samira und Ronny verabredet. Allerdings sah ich sie lange nicht. Auch keine anderen mir bekannten Läufer. Ich beobachtete alles sehr interessiert.
Hundegekläff.
Zwei Möpse bissen sich. Der kleinere der beiden setzte sich durch. Sein Herrchen ließ ihn sich setzen und er redete auf ihn ein. Dann musste der Hund erst das linke, dann das rechte Pfötchen vorzeigen und Herrchen schlug sanft darauf ein. Dann ging er zum Herrchen des anderen Mopses und reichte diesem die Hand um sich für seinen Hund zu entschuldigen.
Eine Läuferin sprach ich an und fragte sie und ihrem Mann, ob sie hier zum ersten Mal starten würde. Ich hatte ihnen zugehört, als sie mit einem anderen Läufer sprachen. Sie startete hier tatsächlich zum ersten Mal und ihr Mann würde sie mit dem Fahrrad als Coach begleiten.
Schön.
Sie hatte bisher einen 50 und einen 55Km Lauf und etwa zehn Marathons bestritten. Ihre Marathonzeit liegt bei 4:30h.
Sie fragte nach Ratschlägen und ich machte ihr Mut und erzählte ihr etwas über meine Erfahrungen bei meinen Bieler Teilnahmen.
Sie fragte, ob man eine Lampe in der Nacht benötigen würde. Für den Abschnitt am Emmendamm konnte ich die Mitnahme einer Lampe empfehlen. Ach ja, die Lampe. Ich hatte keine dabei. Fiel mir plötzlich ein. So viel Routine hatte ich inzwischen, dass ich mich so schlecht vorbereite. Also ging ich zurück zum Auto und holte mir die Lampe, die ich immer schon im Laufrucksack dabei habe. Glück gehabt.

Action Cam und Start. Ich war dann wieder zurück am Kongresszenter und schaute wieder interessiert zu. Jetzt wurde der Fun Lauf gestartet. Zwei Läufer in Trachtenanzügen liefen wie die Wilden los. Das Feld danach lief etwas ruhiger vorbei.
Ronny stand vor mir.
Wir gingen zu Samira und anderen Schweizer Läufern, mit denen sie befreundet sind und unterhielten uns auch über den geplanten AC-DC. Die Organisation der Alpenquerung wird voraussichtlich bis Ende Oktober in den Grundzügen stehen.
Kurz vor dem Start traf ich dann noch Norbert.
Dann ging es los. Ich filmte mit der Action Cam.
Und mein Knöchel ließ mich leicht humpeln. Jetzt ignorierte ich ihn zuerst einmal.

Diesmal wollte ich nicht fotografieren.
Es war noch ziemlich warm in Biel. In der Stadt gab es eine Menge Publikum. Es wurde geklatscht und hopp, hopp gerufen. Kinder streckten ihre Hände zum Abklatschen den Läufern entgegen.

Der Knöchel.
Ach ja, der Knöchel.
Er schmerzte nicht schlecht. Immerhin versuchte ich so aufzutreten, dass es nicht so stark weh tat.
Jeder zehnte Laufschritt war schmerzfrei. Ab und an trat ich auf die Straßenunebenheiten und es schmerzte nicht schlecht. Aber ich konzentrierte mich auf die Strecke und darauf, nicht mit jemanden zu kollidieren. Das wäre für den Fuß nicht so gut. Außerdem half die Cam dabei, mich auf anderes, die Aufnahme der Veranstaltung, zu konzentrieren. Die Sequenzen, die ich aufnahm sind ab und an etwas kurz geraten, da ich etwa nur eine Stunde Aufnahmezeit zur Verfügung habe. Aber trotzdem brauchbar. Der Knöchel meldete sich immer wieder, wenn ich falsch auftrat, besonders stark. Wie würde das weiter gehen bzw. laufen?

Ich beschloss, vorsichtig weiter zu laufen. Wenn ich die Steigungen hochging, wir waren inzwischen bei Port angelangt und die ersten kleineren Steigungen hatten wir hinter uns gebracht, merkte ich den Knöchel kaum.
Die Lichter am See sah ich, wie jedes Jahr. Nur beanspruchte mich der Gedanke an den rechten Knöchel. Sonst fühlte ich mich recht gut. Also würde ich hier an dem Knöchel scheitern. Dabei sonst noch völlig in Takt. Der Knöchel tat weh, wenn ich anlief. Viele aufmunternde Zurufe vom Publikum. Dann ging es nach Jens hinunter und der Knöchel tat beim Laufen doch stärker weh. Verpflegung gab es hier.
Bananenstückchen zu Haufen verklebt. Das mag ich nicht besonders. Unterwegs gab es manchmal Bananenstücken noch mit Schale. Das ist besser. Auch Apfelsinen wurden manchmal einfach zu klein geschnitten. Sonst ist die Verpflegung ziemlich gut beim Bieler Lauf.

Allerdings schmeckt die Cola so ohne Sprudeleffekt nicht so gut. Und ich vermisste auch etwas Deftiges zum Essen. Würstchen vielleicht? Bald liefen wir durch die Felder. Ein Blitz flammte am Himmel auf und erhellte für Bruchteile von Sekunden den Himmel.
Der Knöchel hielt.
Dann fing der Regen an.
Immerhin regnete es ungefähr eine Stunde ziemlich stark. In Aarberg wurden wir trotzdem überschwänglich empfangen. Über die überdachte Brücke. Blitzlichter zuckten. Ich filmte mit der Action Cam.
Dann verstaute ich sie wieder wasserdicht in meiner Tasche.

Ich kannte die Strecke so gut, dass kaum eine Abbiegung unerwartet kam. Ich lief ziemlich schnell und war in dem selbst vorgegebenen Zeitrahmen an den von mir gesteckten Kilometerpunkten. Der Knöchel hielt erstaunlicherweise immer noch.
Oberramsern wollte ich nach ca. 4:20 h erreichen und lief dort bei 4:26:41h ein. Das war also nicht so schlecht. Die ziemliche gerade Strecke von etwa acht Kilometer von Scheunenberg nach Oberramsern konnte ich relativ gut und schnell und auch ohne Gehpause laufen. Plötzlich stellte ich fest, als ich so über den Lauf und die Nacht und die Fahrradfahrer nachdachte, dass ich keinerlei Schmerzen mehr im rechten Knöchel verspürte.

Wo war der geblieben?

Ich traute dem Ganzen aber nicht und probierte verschiedene Möglichkeiten, mit dem rechten Fuß aufzutreten und mich laufend fortzubewegen.

Es blieb dabei: Schmerzfrei!
Alles weggelaufen.

Meine Zeit war noch gut. Und so hoffte ich, da es inzwischen auch aufgehört hatte zu regnen, vielleicht doch unter dreizehn Stunden durchs Ziel laufen zu können. Marathonläufer überholten mich. Viele 56Km Läufer liefen auf meiner Höhe oder wurden von mir überholt.
Nach Oberramsern hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, immer etwa 500 oder 800 Meter zu wandern. So auch diesmal. Nur fiel mir plötzlich das Anlaufen ziemlich schwer.
Irgendwann regnete es wieder und hörte bald wieder auf. Ich fror in der Nacht aber nicht. Nur Durst hatte ich plötzlich. Und so trank ich an den Versorgungsstationen wieder etwas mehr. Diesmal Tee oder Iso mit Orangengeschmack und füllte auch wieder meine Trinkflasche auf.

Das half und bald verging der Durst. Allerdings hatte ich wieder unwiderstehlichen Hunger, konnte mich aber nicht überwinden, etwas zu essen.

Und da waren sie wieder.
Die Geister der Nacht.
Allein unterwegs in Biel.
Allein ist man nicht!
Denn Sie suchen dich und finden dich!
In der Nacht der Nächte, wie es so schön heißt. Und sie kommen, wenn du allein unterwegs bist, die Nacht so kühl ist, wenn du den Duft nach Heu auf der Zunge und in der Nase hast, wenn du die Frösche hörst, wie sie quaken und die Grillen.

Ja, es gibt sie wirklich.
Die Nachtgespenster.
Weit vor dir oder hinter dir sind die anderen Läufer. Die Lampen der Radbegleitungen oder Läufer funkeln in der Nacht und Schatten lauern in den Gebüschen im Wald oder im hohen Gras. Die Bieler Nachtgespenster, die dir ins Ohr flüstern: Was machst du hier, Wanderer? Wanderer leg dich doch hin. Warum läufst du so schnell davon? Bleib etwas bei mir und hör, an den einsamen Bauernhöfen, dem Plätschern der Brunnen zu .
Und dann fängst du wieder an zu laufen.
Dann denkst du über den Sinn nach.
Auch über das Leben.
Und dann?
Irgendwann ist alles wieder gut.
Du läufst einer Maschine gleich so vor dich hin.
Vom Sinn befreit.

Laufen.
Laufen oder wandern.
Hauptsache weiter durch Leben.

Und das Ziel rückt näher.
Unterzuckert oder einsam?

Nach einigen VPs nahm ich dann aber Powergeel zu mir und vertrug auch die Riegel, die ich danach noch nachschob ganz gut. Damit kam ich langsam wieder zu Kräften. Hatte aber doch einige Zeit gegenüber meiner Berechnung verloren. Irgendwo vor Jegenstorf überholten mich Désirée und Alex. Ich erkannte sie aber zu spät, um mich bemerkbar zu machen. Am Schild mit der 50Km drauf posierten wieder Läufer. Ich behauptete, das wäre in Wirklichkeit gelogen! Denn die Hälfte des Laufes käme ja erst noch. Jedenfalls ist das immer bei mir so. Die reinen 50Km gelaufen stellen für mich noch nicht die Hälfte der Aufgabe dar!

Vor Kirchberg holte ich Alex und Désirée wieder ein und sie liefen mir wieder davon, nachdem wir uns etwas unterhalten hatten. Die Beiden hatten an der Tor Tour de Ruhr teilgenommen und Alexander noch eine Woche vorher in Belgien einen schweren Traillauf bestritten. Jetzt hatten sie einen Lauffreund dabei und unterstützten ihn mental bei seinem ersten Bieler Lauf.

Auf dem Emmendamm lief ich sehr langsam. Es dämmerte schon und ich brauchte die Lampe nicht. Ich war aber sehr vorsichtig. Mein Fuß hielt ja zum Glück. Aber man muss es ja nicht herausfordern. Der Knöchel bleib weiterhin gut.
Schmerzfrei.
Die Vögel zwitscherten so wunderbar und mein Knöchel hielt.
Endlich dann das Schild mit der 70Km darauf. Es ging leicht bergan nach Lüterkofen. Ich konnte die leichte Steigung hoch laufen. Dann sah ich Alex und Désirée wieder. Plötzlich konnte ich wieder richtig gut laufen und ich wurde etwas schneller.

Das hielt bis Bibern an. Dann ging es steil hoch. Ich unterhielt mich mit einer netten Radbegleitung. Den Abstieg nach Arch herunter konnte ich wieder gut laufen, merkte aber, dass ich langsam die Kraft verlor. Am Nidau-Büren Kanal angelangt, musste ich öfter gehen, verlor aber nicht den Mut.
Alle Fragen nach dem Sinn das Lebens, der Teilnahme hier, nach dem Laufen und dem Sport überhaupt, hatte ich mir schon in der langen und teilweise nassen und kühlen Nacht gestellt und auch beantwortet. Das Ziel lag vor mir und ich würde es irgendwann auch erreichen!
Vielleicht dann so nach 13:30 Stunden, stellte ich bei der Berechnung fest.
Das war aber nicht mehr so wichtig. Ich hatte keine so gute Nacht für mich erwischt.

Plötzlich fing es wieder an, richtig stark zu regnen. Und in Büren an der Aare sah ich viel Wasser im Kanal und viel Wasser fiel vom Himmel. Unangenehm war es. Aber mein Durst hielt sich wohl deswegen in Grenzen. Wasser gab es genug.
Ronny in Büren. Samira lief hinter einem Läufer her, überholte mich, und brachte ihm etwas zu trinken.

Ich lief immer langsamer aber lief. Ab und an ging ich längere Strecken. Kein Problem. Der Knöchel machte mich froh: Er hielt. Schmerzfrei, wenn auch langsam. Das hatte ich nicht unbedingt erwartet aber gehofft! Das war schön.

Endlich Km95. Selten musste ich an dieser Stelle so kämpfen. Aber ich lief ab und an, wenn auch sehr langsam. Dann km98. Eine Steigung. Hier ist die Strecke wirklich nicht schön. Dann holte ich die Action Cam wieder hervor und lief endlich durch Ziel. Die Medaille wurde mir umgehängt. Hier trank ich ein alkoholfreies Bier. Das musste genügen. Es war ja nicht so heiß. Dafür aber wirklich ekelig nass. Ich holte meine Sachen. Dann noch die Urkunde und unterhielt mich mit der netten Dame an der Urkundenausgabe. Sie wohnte in Le Landeron. Den Ort kennen wir ja gut. Besonders die hübsche Altstadt. Leider hatten wir in diesem Jahr keine Zeit, dort am Brunnen einen Weißwein zu trinken. Schade.
Ich verabschiedete mich und ging zum Auto. Die Duschen, so sagte man mir, seien eh kalt. Also ab in die Unterkunft und schnell warm geduscht. Unterwegs in Biel wieder anerkennende Daumen nach oben, Lächeln und aufmunternde Worte der Passanten.

In Erlach durfte ich endlich warm Duschen. Mein Knöchel hatte mich nicht enttäuscht und ich fand alles andere auch wunderbar. Die Geister der Nacht waren verschwunden.
Und in 2017?

Vielleicht eine ganz andere Vorbereitung wegen der Alpenquerung (AC-DC)?

Wer weiß, ob und was 2017 klappt?

// © Jörg Segger/ 19.06.2016//